Die zerbrechliche Ordnung leben

Von Reinhard Müller

Das Grundgesetz und der darauf gebaute demokratische Rechtsstaat sind auf einem Trümmerfeld entstanden, aber nicht aus dem Nichts. Die Väter und Mütter konnten an etwas anknüpfen, das auch in dunkelster Zeit nie ganz verloren gegangen war. Bemerkenswert bleibt zudem, dass der Rechtsstaat auch von Trägern des NS-Unrechtsstaates errichtet wurde, die etwa beim Entwurf von Herrenchiemsee Hand in Hand mit Nazi-Opfern zusammenarbeiteten. Man legt nicht alle Überzeugungen über Nacht ab. Aber der gesamte Prozess dieser deutschen Demokratiewerdung zeigt doch eine beachtliche, nicht nur institutionelle Lernfähigkeit. 

Auch daraus lässt sich Zuversicht schöpfen. Bundespräsident Steinmeier tat deshalb gut daran, eher allgemein vor denen zu warnen, die unsere Ordnung abschaffen wollen. Er ist kraft dieser Ordnung der auf Zeit gewählte Repräsentant aller Deutschen, der vor allem eine integrative Funktion hat. Er sollte unsere Grundwerte hervorheben, aber keine Wahlempfehlung abgeben. Womöglich zeigt sich erst jetzt, in Zeiten zunehmender Polarisierung und Fragmentierung, ob wir reif sind für unsere ebenso offene und klare wie starke Verfassung. Klar für die Freiheit und offen für alle Meinungen, im Prinzip auch für das, was andere für unsagbar halten. Stark in ihrem Grundsatz und damit auch in ihren Grenzen: Der Staat ist für den Menschen da. Die Unantastbarkeit seiner Würde gibt unabänderlich die Richtung vor. Es gibt keine Menschen zweiter Klasse, keinen niederen Rang vor dem Gesetz, kein niederes Geschlecht, keine niedere Herkunft. 

Die Friedensordnung des Grundgesetzes weiß selbst um ihre Zerbrechlichkeit. Sie ist nur so gut und so beständig wie die Menschen, die sie leben. Das ist die Lehre aus Weimar. Kein Kanzler und kein Präsident kann die Bürger auf Überzeugungen verpflichten oder Verfassungspatriotismus anordnen. Sie sind frei. Und sollten ein Interesse daran haben, dass das so bleibt. Eine Garantie gibt es nicht, aber begründete Hoffnung.

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